Vermisste Kinder: Journalismus, der bewegt

Bild: Michael Schwab

Daphne-Caruana-Galizia-Preis für Journalismus

Strahlende Gesichter bei den Gewinnern des Daphne-Caruana-Galizia Preises 2024: das internationale Recherche-Team „Lost in Europe“.

Europa zeigt Flagge. Flagge für die Prinzipien und Grundwerte der Europäischen Union. Und: für Pressefreiheit. Inzwischen zum vierten Mal seit 2021 hat das Europäische Parlament in Straßburg den mit 20.000 Euro dotierten und nach der ermordeten maltesischen Enthüllungsjournalistin Daphne Caruana Galizia benannten Preis für herausragende journalistische Leistungen verliehen. Diesmal in Anwesenheit von Caruanas ältestem Sohn Matthew an das internationale Recherche-Team „Lost in Europe“, an dem von deutscher Seite unter anderem der RBB sowie die Tagesschau und Zeit Online mitgewirkt haben.

Tragisches Schicksal

Mit ihren europaweiten Erhebungen wollen die Journalistinnen und Journalisten der Recherche-Plattform auf das tragische Schicksal von über 51.433 geflüchteten, unbegleiteten Kindern und Jugendlichen in den Jahren 2021 bis 2023 aufmerksam machen, deren Spur sich nach der Ankunft in Europa verliert und die seither als vermisst gelten. Was mit den die jungen Migranten geschehen ist, ob sie nun Opfer von Verbrechen geworden sind oder ausgebeutet werden – niemand weiß es. Besonders tragisch: Etwa 47 Kinder und Jugendliche sind es, die täglich verschwinden, wie die Datenerhebung von „Lost in Europe“ in 31 Ländern Europas, darunter Deutschland, Italien und Österreich, ergeben hat. Mit dieser aufwendigen Analyse hatte das Team schließlich die Jury bei den 13 in die engere Wahl gekommenen Arbeiten überzeugen können. Insgesamt 318 Beiträge aus den 27 EU-Mitgliedsstaaten waren eingereicht worden.

Kampf für Gerechtigkeit

Besser hätte der Ort der Preisverleihung nicht gewählt werden können als im Daphne-Caruana-Galizia-Pressesaal des Europäischen Parlaments. Hier unterstrichen die für den Preis zuständige Vizepräsidentin des Parlaments Pina Picierno, Parlamentspräsidentin Roberta Metsola sowie Juliane Hielscher als Jurymitglied die Bedeutung der Auszeichnung.

Daphne Caruana Galizias Stimme finde auch sieben Jahren nach ihrem Tod Gehör, betonte Vizepräsidentin Picierno. Die Investigativjournalistin habe gegen Korruption und Fehlverhalten gekämpft und ihren entschiedenen Einsatz für Gerechtigkeit mit dem Leben bezahlt.

Parlamentspräsidentin Metsola machte deutlich: „Das Vermächtnis von Daphne Caruana Galizia lebt weiter – im Werk von Journalistinnen und Journalisten, die leben, um die Wahrheit zu sagen, und sich nicht den Mund verbieten lassen. Sie kämpfen unerschütterlich für Gerechtigkeit, obwohl man sie bedroht und versucht, sie von ihrer wichtigen Arbeit abzuhalten.“ Die Pressefreiheit sei nicht verhandelbar. Sieben Jahre nach Daphne Caruana-Galizias Ermordung werde ihr Andenken  ein weiteres Mal mit jenem Preis geehrt, „der uns daran erinnert, dass das Europäische Parlament seit vielen Jahren für diese Grundwerte eintritt.“ Letztlich sei die Auszeichnung auch all jenen Journalistinnen und Journalisten gewidmet, die in der Ukraine und im Einsatz überall auf der Welt getötet werden oder „täglich ihr Leben riskieren.“ Europa mache sich stark dafür, dass Journalistinnen und Journalisten frei arbeiten könnten, ohne Furcht, ohne Schikane, ohne Gewalt oder gar Mord. Dafür stünden der „Media Freedom Act“ (Medienfreiheitsgesetz) oder die „Anti-Slapp Directive“ (Anti-Slapp Richtlinie), die das Parlament im Februar 2024 verabschiedet hat und die unter anderem auch Journalisten vor „strategischen und missbräuchlichen Klagen“ schützen soll. Wie Metsola bekräftigte, sei es „für uns alle eine Daueraufgabe für die Freiheit von Journalistinnen und Journalisten einzutreten.“

Gemeinsam mit Stavros Malichudes, einem der Vorjahressieger, gab Jury-Mitglied Juliane Hielscher die Preisträger 2024 bekannt. Zuvor erinnerte die Laudatorin an das von Paul Caruana Galizia im vergangenen Jahr veröffentlichte Buch „ A Death in Malta: An assassination and a family´s quest for justive“ Daphnes jüngster Sohn hatte darin auf den ersten Seiten seine Sorge geäußert, dass das Werk der Mutter bald in Vergessenheit geraten könne. Hielscher hielt Pauls Bedenken jedoch entgegen, dass die Malteser selbst durch stillen Protest die Erinnerung an die engagierte Journalistin wachhielten. Fotos, Blumen, Kerzen und Grüße seien ein Beleg dafür, auch wenn sie immer wieder durch die staatlichen Autoritäten entfernt würden. Nicht zuletzt der nach Daphne Caruana Galizia benannte Preis sei ein Zeichen gegen das Vergessen. Hielscher wies zugleich auf das in Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Recht auf freie Meinungsäußerung, Medienfreiheit und Pluralismus hin. „Es liegt an uns (den Journalistinnen und Journalisten), diese Rechte einzufordern und zu nutzen.“ Über die 13 Arbeiten in der engeren Auswahl sagte Hielscher, sie seien allesamt außergewöhnlich, basierten auf gründlicher Recherche, seien exzellent geschrieben und produziert. Doch nur für einen Gewinner habe sich die Jury entscheiden können und das sei das Recherche-Team „Lost in Europe“ gewesen, dem Jury-Mitglied Hielscher wie auch Vize-Präsidentin Picierno  und Parlamentspräsidentin Metsola herzlich gratulierten.

Der preisgekrönte Beitrag

Die monatelangen Recherchen der Gewinner legen nahe, dass es wahrscheinlich noch mehr vermisste minderjährige Migranten gibt. Denn in einigen Staaten fehlt es an Datenmaterial mit der Folge großer Datenlücken. Die neueste Untersuchung baut auf den Recherchen von „Lost in Europe“ aus dem Jahr 2021 auf. Bereits damals hatten Analysen des Teams ergeben, dass von 2018 bis 2020 mehr als 18 000 Kindermigranten in Europa verschwunden waren.

Aagje Leven, Generalsekretärin von „Missing Children Europe“, vermutet, dass die Ergebnisse nur die „Spitze des Eisbergs“ sind, da immer mehr Kindermigranten in Europa in alarmierendem Tempo verschwinden. Befürchtet werde, dass sie Opfer von Menschenhandel und moderner Sklaverei werden.

Die an diesen Recherchen beteiligten Medienpartner waren: De Standaard (Belgien), Small Stream Media (Niederlande), RBB (Deutschland), Knack (Belgien), ANSA (Italien), Domani (Italien), CNN (Vereinigtes Königreich / USA), VRT (Belgien), Εfimerida ton Syntakton (Griechenland), il Fatto Quotidiano (Italien), The Journal (Irland), Tagesschau (Deutschland), Zeit Online (Deutschland) und NRC (Niederlande).

Über den Preis und seine Namensgeberin

Der Daphne-Caruana-Galizia-Preis ist vom Präsidium des Europäischen Parlaments im Dezember 2019 zu Ehren der maltesischen Enthüllungsjournalistin und Bloggerin ins Leben gerufen worden. Daphne Caruana Galizia hatte sich dem Kampf gegen Korruption verschrieben. Sie berichtete über Korruption, Geldwäsche und organisiertes Verbrechen, aber auch über den Handel mit der Staatsbürgerschaft und die Verwicklung der maltesischen Regierung in die Affäre um die so genannten Panama-Papiere. Deswegen schüchterte man sie ein und bedrohte sie. Am 16. Oktober 2017 wurde die Journalistin unweit ihres Hauses auf dem Weg zu einem investigativen Gespräch durch einen Autobombenanschlag getötet. Der Skandal rund um die Ermittlungen der Behörden im Mordfall Daphne Caruana Galizia führte zum Rücktritt von Ministerpräsident Joseph Muscat.

Jedes Jahr um den 16. Oktober – den Tag ihrer Ermordung – würdigt das Europäische Parlament mit dem Preis herausragende journalistische Leistungen, mit denen die Prinzipien und Grundwerte der Europäischen Union hochgehalten und verteidigt werden. Im Mittelpunkt stehen unter anderem Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichstellung, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Mit dem Preis soll zugleich darauf aufmerksam gemacht werden, wie wichtig professioneller Journalismus ist, um Freiheit, Gleichstellung und Chancen für alle zu sichern.

Eine unabhängige Jury, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der Presse und Zivilgesellschaft aller 27 EU-Mitgliedstaaten sowie einer Vertreterin bzw. einem Vertreter der Internationalen Journalisten-Föderation, bewerten die eingehenden Arbeiten.

Bisherige Gewinnerbeiträge

• 2021 „Das Pegasus-Projekt“, koordiniert von Forbidden Stories
• 2022 Dokumentarfilm „Zentral-Afrika: Die Söldner aus Russland“ von Clément Di Roma und Carol Valade (ARTE/France24/Le Monde)
• 2023 Gemeinsame Recherchen zum Untergang eines Flüchtlingsboots vor Pylos (Solomon, in Zusammenarbeit mit Forensis, StrgF/ARD und The Guardian)
• 2024 Das Recherche-Team „Lost in Europe“